Lutz Oberländer, Buchautor in Siemensstadt

Die Liebe bringt Lutz Oberländer in die Siemensstadt. Obwohl Mitte der Sechziger in Berlin geboren, kennt Oberländer den Stadtteil bis zur Jahrhundertwende noch nicht. Er ist überrascht: Die Vielfalt der Architektur auf wenigen Quadratkilometern scheint einmalig. Also beginnt er zu recherchieren. Aus einem vagen Interesse wird eine intensive Leidenschaft. Mittlerweile gilt Oberländer als Experte – und hat drei Bildbände über die Siemensstadt veröffentlicht.

Herr Oberländer, wie war Ihr erster Eindruck, als Sie damals in die Siemensstadt gekommen sind?

Lutz Oberländer:
Ich war erstaunt. Weil es eine Stadt in der Stadt ist. Die ist weit weg von dem, wo man groß geworden ist, hat aber eine eigenständige Infrastruktur. Also Geschäfte, Häuser, Wohnungen, Arbeitsplätze, Schulen – und doch eben mit einer gewissen Distanz zu den anderen Stadtteilen in der Nähe, also Spandau und Charlottenburg.

Haben Sie sofort angefangen, sich über den Stadtteil zu belesen?

Lutz Oberländer:
Das kam nach und nach. Durch Zufall hatte ich im Internet mal Fotos von Siemensstadt gefunden und dachte: „Ist ja eigentlich nicht schlecht. Legste auf die Seite, kannste mal nutzen.“ Und dann wurden es immer mehr. Und wenn man wissen will, was auf den Bildern drauf ist, kauft man sich Bücher, recherchiert im Internet – und dann wird die Sache irgendwann zum Selbstläufer ...

Sie kommen ursprünglich aus Neukölln, jetzt sind Sie ganz auf die Siemensstadt konzentriert. Was macht diesen Stadtteil so einzigartig? Die Architektur?

Lutz Oberländer:
Dazu muss man gleich wissen: Es gibt nicht die Architektur der Siemensstadt, sondern Siemensstadt ist eigentlich wie ein Bilderbuch der Architekturgeschichte der letzten hundert Jahre. Für einen Außenstehenden wirkt es zusammengewürfelt. Analytisch betrachtet besteht es aus vielen Kleinsiedlungen. Die erste Siedlung um 1900 war die rings um die Nonnendammallee. Gebaut bis zum ersten Weltkrieg. Die Siedlung, wo wir uns jetzt befinden, die Siemenssiedlung, ist direkt nach dem ersten Weltkrieg gebaut worden. Und dann kamen in dichter Folge weitere Siedlungen ... Am Schuckertdamm die Siedlung Heimat, die Großsiedlung Siemensstadt, das Weltkulturerbe im Jahr 1929 bis Anfang der 30er Jahre. Dann wurde das Bauen fortgesetzt, noch vor Kriegsbeginn, rings um den Göbelplatz. Heute ist das Charlottenburg Nord.

Dabei sind herausragende Gebäude entstanden …

Lutz Oberländer:
Ja, hier in Siemensstadt das Schaltwerkhochhaus zum Beispiel, das ist eine Industrie-Ikone: das erste Fabrikhochhaus in Europa – nach amerikanischem Vorbild. Stahlkonstruktion. Ausgemauert. Mit flachen Dächern, großen Räumen, den neuesten Produktionsmethoden. Die älteren Industriegebäude sind halt noch so wie man sie aus der Kaiserzeit kennt: mit vielen in sich geschlossenen Hinterhöfen, Backsteinbauten und relativ schlecht belüftet.

Hat der zweite Weltkrieg die Architekturlandschaft arg in Mitleidenschaft gezogen?

Lutz Oberländer:
Siemensstadt als Siedlung, als Wohneinheit, wurde kaum zerstört. Nur die Siemenswerke haben extrem gelitten. Und nach dem zweiten Weltkrieg ging die Bautätigkeit weiter am Rohrdamm – hier genau gegenüber von der Siemenssiedlung. Da wurden Mitte der 50er, Mitte der 60er Jahre weitere Häuser gebaut in der Siedlung Rohrdamm West. Und so hat jede Siedlung, jeder Bestandteil seine eigene Architektursprache.

So eine Art Landkarte der Architekturgeschichte, die nach und nach entsteht?

Lutz Oberländer:
Man muss es als Lebensgebilde sehen. Wohngegenden sind nicht statisch. Wie gesagt, es begann auf der grünen Wiese. Wohnbauten kamen hinzu. Produktionsbedingungen veränderten sich, Fabriken wurden abgerissen, neue Fabriken gebaut. Derzeit haben wir die Phase der städtischen Verdichtung. Das heißt, sobald ein bisschen Grünfläche da ist, werden entsprechende Bauten dazwischengesetzt, sodass wir da neuen Wohnraum schaffen. Der abschließende Prozess soll jetzt eingeleitet werden mit dem neuen Siemens Campus. Ursprünglich waren es Freiflächen bzw. Industrieflächen, und die sollen jetzt zu Wohnflächen umgewandelt werden.

Wie sehen Sie diese Transformation? Wird das dem Stadtteil eine neue Richtung geben?

Lutz Oberländer:
Eine neue Richtung bekommt die Siemensstadt auf jeden Fall. Wir verdoppeln hier kurzfristig die Einwohnerzahl durch diese Maßnahmen. Die Infrastruktur-Bauten sind aber nicht so weit mitgeplant, dass die das mittragen können. Also da ist vielleicht noch ein bisschen Potenzial da. Die Siemensbahn soll eröffnet werden – wird aber wahrscheinlich erst nach den Wohnbauten fertig. Das heißt, der Bedarf wird sicherlich vorher da sein.

Abschließend: Haben Sie einen Lieblingsort in der Siemensstadt?

Lutz Oberländer:
Dann kann man runter gehen zur Spree. Das ist ein Traum! Man kann die Jungfernheide besuchen, mit dem Jungfernheide-See. Ebenfalls wunderschön! Also es gibt viele, viele Orte. Man kann auf den Kirchturm gehen, am Schuckertdamm, und dann hat man einen wunderbaren Blick über Siemensstadt – bis zur Spree, sogar bis nach Spandau. Also es gibt nicht DEN, sondern DIE Lieblingsorte.